Ohne Demokratie und historische Aufarbeitung keine Lösung
Nach dem historischen Kongress der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Anfang Mai, auf dem die Selbstauflösung und der Verzicht auf den bewaffneten Kampf verkündet wurde, bewertet Salih Muslim, Mitglied des Präsidialrats der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), die Entwicklung als Wendepunkt. Im Gespräch mit ANF betont er die strategische Bedeutung dieses Schritts – für die kurdische Bewegung, für die Türkei und für den gesamten Nahen Osten.
Eine Phase der Transformation
Muslim stellt fest: „Die PKK wurde gegründet, um ein klares politisches Ziel zu verfolgen – und sie hat es erreicht.“ Die Existenz der Kurd:innen sei heute nicht nur anerkannt, sondern sie hätten sich auch als politische und militärische Akteure etabliert. Im Mittleren Osten seien sie heute ein unverzichtbarer Faktor. Die Selbstauflösung der PKK sei Teil eines strategischen Wandels: weg von der bewaffneten Konfrontation, hin zu neuen, zivilen Formen des politischen Kampfes.
Dabei macht Muslim deutlich, dass die jahrzehntelange Einstufung der PKK als „Terrororganisation“ maßgeblich durch den türkischen Staat forciert worden sei – ein Narrativ, das im Licht der jüngsten Entwicklungen neu bewertet werden müsse. Die Partei habe sich transformiert, um neuen politischen Realitäten zu begegnen.
Die ungelöste historische Schuldfrage
Für Muslim reicht eine bloße Neuausrichtung jedoch nicht aus. Die türkische Republik müsse sich ihrer historischen Verantwortung stellen und ihre Fehler korrigieren. „Die Wurzeln des kurdisch-türkischen Konflikts reichen zurück bis zum Vertrag von Lausanne 1923. Dieser stellte den Ausgangspunkt einer gezielten Auslöschungspolitik gegenüber den Kurd:innen dar, die bis heute nachwirkt.“ Vor Lausanne hätten Türk:innen und Kurd:innen gemeinsam in einem Parlament gesessen – nach Lausanne sei ihre Existenz politisch negiert worden.
Die Folge sei eine hundertjährige Geschichte der Repression, Vertreibung und Assimilation gewesen – bis hin zu Massakern, die Muslim als Teil eines strukturellen Genozids einordnet. Die Gründung der PKK 1978 und der Beginn des bewaffneten Widerstands 1984 seien daher eine direkte Reaktion auf diese staatlich forcierte Auslöschungspolitik gewesen. „Sie hat sich im Rahmen legitimer Selbstverteidigung vollzogen“, betont Muslim.
Verpasste Chancen und blockierte Friedensprozesse
In seiner Analyse verweist Muslim auf mehrere gescheiterte Anläufe zu Friedensgesprächen: vom einseitigen Waffenstillstand 1993 unter dem damaligen Türkei-Präsidenten Turgut Özal bis hin zu den Oslo-Gesprächen 2007. „Der kurdische Teil hat stets eine konstruktive Rolle gespielt“, so Muslim. Dennoch seien die Initiativen regelmäßig durch „die tiefer liegende, nationalistische Staatsideologie“ sabotiert worden. Die Weigerung, kurdische Identität und Kultur anzuerkennen, blockiere bis heute jeden Fortschritt.
Besonders kritisch sieht Muslim die Rolle von Devlet Bahçeli, Vorsitzender der rechtsextremen MHP, der „seit den 1960er Jahren zu den entschiedensten Gegnern kurdischer Existenz“ zähle. Dass selbst er heute Teil des sich anbahnenden Lösungsprozesses sei, zeige die Widersprüchlichkeit der staatlichen Linie.
Verantwortung der internationalen Gemeinschaft
Muslim richtet auch einen Appell an internationale Akteur:innen: „Viele Staaten sprechen von Menschenrechten und Frauenrechten – handeln aber letztlich interessengeleitet.“ Er fordert, dass europäische und internationale Institutionen eine vermittelnde, garantierende Rolle übernehmen und Druck auf Ankara ausüben. Nur unter internationaler Beobachtung könne ein glaubwürdiger Friedensprozess entstehen.
Auch sei die derzeitige Situation nicht mehr rein national: Die kurdische Frage betreffe durch Vertreibung, Migration und internationale Verstrickungen längst auch Europa. „Wer heute schweigt, trägt Mitverantwortung“, so Muslim.
Demokratischer Konföderalismus als Zukunftsmodell
Muslim unterstreicht die Bedeutung des von Abdullah Öcalan entwickelten Konzepts des demokratischen Konföderalismus – ein Gesellschaftsmodell, das auf Gleichberechtigung, Basisdemokratie, ökologischer Nachhaltigkeit und Geschlechtergerechtigkeit basiert. „Demokratie beginnt in der Kommune“, so Muslim. Diese Struktur ermögliche ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen – wie es in der Geschichte Mesopotamiens über Jahrtausende existierte.
„Der demokratische Nationalstaat ist überholt“, erklärt Muslim. Nur wenn die Türkei sich dieser Realität stelle, könne auch die kurdische Frage gelöst werden – zum Wohl beider Völker. Die Erfahrungen aus Rojava hätten gezeigt, dass der Aufbau alternativer Gesellschaftsstrukturen möglich sei, selbst unter widrigsten Bedingungen.
Die Rolle der PKK im historischen Gedächtnis
Zum Abschluss verweist Muslim auf die Bedeutung der PKK im kollektiven Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft. „Wer heute für Demokratie und Freiheit eintritt, muss die Geschichte dieser Bewegung kennen. Es ist eine Geschichte des Widerstands, des Überlebens – und letztlich der Hoffnung.“